Polinnen sind Macherinnen
Frauenerwerbstätigkeit ist ein vielfach diskutiertes Thema. Die Polinnen, die zuletzt nach Berlin kamen, sind hochqualifiziert. Sie sind der Grund für die starke Akademikerquote von 48 Prozent in der polnischen Community. Sie weisen im Vergleich zu allen anderen Berlinerinnen, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, zudem die höchste Erwerbstätigenquote auf. Zugleich stellen sie jedoch mit 70 Prozent die Mehrheit unter den Polen, die nur geringfügig beschäftigt sind und damit in einem prekären Arbeitsverhältnis stehen. Wir wollen wissen, wie sich Polinnen auf dem Berliner Arbeitsmarkt schlagen – und fanden Antworten bei Anna Czechowska. Sie ist im Vorstand des Vereins agitPolska e. V. und gehört seit 2017 dem Landesbeirat für Integrations- und Migrationsfragen des Berliner Senats an. Sie leitet zudem BOX 66, ein interkulturelles Beratungs- und Begegnungszentrum für Frauen und Familien am Ostkreuz, das vom Verband für interkulturelle Arbeit Berlin/Brandenburg getragen wird. Das Zentrum unterstützt Polinnen in Berlin Fuß zu fassen, zum Beispiel durch Einzelberatung oder Workshops.
Frau Czechowska, was zieht Polinnen nach Berlin?
Auswanderung ist ein komplexes Phänomen, so auch die Motive für eine Emigration. Bei unserer Arbeit stoßen wir jedoch immer wieder auf zwei Gründe. Zum einen sind es ökonomische Motive: Viele Polinnen hoffen, durch Arbeit in Berlin einen besseren Lebensstandard zu erreichen. Diese Hoffnung beruht jedoch nicht nur auf der ökonomischen Situation und dem Arbeitsmarkt. Auch der Zugang zu einem guten Bildungs- und Gesundheitssystem gehören dazu. Sie verschaffen soziale Sicherheit. Zum anderen sind Werte und Rechte ein Motiv. Polinnen mögen die offene, multikulturelle Gesellschaft in Berlin. Sie schätzen die Chance auf Mitbestimmung und die Frauenrechte. Ein guter Lebensstandard und feste Rechte erzeugen in ihnen ein Gefühl von Stabilität und Sicherheit. Genau das ist ihr Ziel.
Wie würden Sie nach Berlin kommende Polinnen beschreiben, zum Beispiel mit Blick auf ihre Qualifikationen?
Die Polinnen lassen sich nicht kategorisieren. Ihre Gruppe besticht durch Diversität. In jüngster Zeit kommen jedoch vor allem hochqualifizierte Frauen nach Berlin. Sie sind kreativ, flexibel und sehr zielstrebig. Selbst wenn sie die Sprache noch nicht können, so bringen sie doch den Willen mit, Deutsch zu lernen. Überhaupt zeichnet sich diese Gruppe durch eine starke Lernbereitschaft aus – eine gute Voraussetzung, um sich auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren. Außerdem fällt es ihnen leicht, sich zu vernetzen – ob mit Deutschen oder Polen, ob online oder offline. Die Summe dieser Stärken zeigt sich auch daran, dass nicht wenige sogar mit dem Gründen eines eigenen Unternehmens liebäugeln. So veranstaltet agitPolska e. V. zum Beispiel ein Seminar zu Existenzgründung, das von vielen Polinnen besucht wird, gerade, wenn es um den kreativen Bereich geht. Insgesamt erleben wir die Polinnen als Macherinnen, die sich gerne engagieren oder eigene Projekte anstoßen.
Welche Herausforderungen müssen Polinnen meistern, wenn sie nach Berlin kommen?
Nicht alle Polinnen sprechen deutsch. Doch so international Berlin auch erscheinen mag: Es gibt nur wenige Bereiche auf dem Arbeitsmarkt, in denen man ausschließlich mit Englisch durchkommt. Viele unterschätzen, wie wichtig Sprachkenntnisse sind.
Zudem sind die Strukturen in Deutschland anders – ob auf dem Arbeitsmarkt, in der Gesellschaft oder bei den Sozialsystemen. Sie beeinflussen wiederum die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Auch Polen können zum Beispiel nur einen Job bekommen, der ihren Fähigkeiten entspricht und somit die Chance auf einen angemessenen Lebensstandard bietet, wenn ihre Qualifikationen anerkannt werden. Dafür gibt es in Deutschland ein eigenes Verfahren.
Eine weitere Herausforderung entsteht durch Berlin selbst: Die Stadt ist multikulturell, deshalb ist sie ständig im Wandel. Weder die Integration in noch die Partizipation an der Gesellschaft lassen sich abschließen. Diese ständige Anpassung und Neugestaltung ist eine Herausforderung – aber auch eine große Chance.
Die hochqualifizierten Frauen sind nur eine Seite. Auf der anderen Seite stehen geringfügig Beschäftigte aus Polen. Hier liegt der Frauenanteil bei 70 Prozent. Viele arbeiten in der Pflege oder als Reinigungskraft. Wie ließe sich das vermeiden?
Wenn sie nach Berlin kommen, ohne anerkannte Qualifikationen und Deutschkenntnisse ist es schwer auf Anhieb einen Job zu finden, der dem eigenen Können entspricht. Das erschüttert das Selbstbewusstsein, frustriert und verunsichert. Gelegentlich bieten auch Institutionen wie etwa die Arbeitsagenturen den Frauen – insbesondere, wenn sie nicht Deutsch sprechen – Tätigkeiten an, die nicht ihren Qualifikationen entsprechen. Statt weiter den Weg der Anerkennung der eigenen Qualifikation zu verfolgen und Deutsch zu lernen, nehmen Frauen dann oft diese prekären Jobs, wie eben geringfügige Beschäftigungen, an. Ihr Motto: Hauptsache, Arbeit! Das kann für den Übergang in Ordnung sein. Doch in Deutschland kann das auch eine Falle sein, aus der man nicht so schnell wieder herauskommt.
Was raten Sie Polinnen, die nach Berlin kommen wollen?
Unterschätzen Sie nicht die Relevanz der deutschen Sprache. Zweitens, machen Sie sich einen möglichst konkreten Plan, idealerweise mit klaren Zielen. Fragen Sie: Wie will ich mein Leben in Berlin gestalten? Welchen Job möchte ich machen? Wie sind meine Chancen, meinen Wunsch-Job zu bekommen? Sie müssen nicht unbedingt das Ziel kennen, aber eine Himmelsrichtung wäre gut. Drittens bereiten Sie sich gut vor. Informieren Sie sich über die Strukturen in Deutschland, Ihre Rechte und Pflichten. Das gibt nicht nur Sicherheit, sondern verhindert auch Missverständnisse. Hier helfen die Migrationsberatungen für erwachsene Zuwanderer weiter. Box 66 bietet etwa Einzelberatungen oder Workshops auf Polnisch an. So helfen wir, in Berlin Fuß zu fassen: Wir schauen etwa, welche Kompetenzen eine Frau mitbringt. Dann gucken wir, welche Möglichkeiten die Frau auf dem Arbeitsmarkt hat. Schließlich helfen wir, interkulturelle Unterschiede zu verstehen, die für das Arbeitsleben wichtig sind. Das hilft übrigens auch Männern. Beratungsstellen zielen auf Empowerment ab: Wir ermutigen und bestärken Frauen. Wir unterstützen sie bei den richtigen Schritten für ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben.
Im zweiten Teil des Interviews zum Arbeitsmarkt mit Anna Czechowska lesen Sie, was polnische Frauen von ihren Landsmännern sowie von den deutschen Frauen unterscheidet und welche kulturellen Unterschiede es auf dem Arbeitsmarkt gibt. Es erscheint am 07.08.2017 hier.