Corona, Krise und Kultur – Der Kulturzug im Dialog mit seinen Breslauer Freunden
Der Beitrag ist enstanden im Rahmen einer Umfrage, durchgeführt von der Redaktion des „Wrocławski Niezbędnik Kulturalny“ – 9.4.2020
1. What has changed in the cultural life in your country or city since the virus spread?
Das kulturelle Leben, wie wir es kennen, ist in Berlin, ist in ganz Deutschland zum Erliegen gekommen. Zunächst wurden große Veranstaltungen abgesagt und jetzt gelten Kontaktbeschränkungen, die es kaum erlauben, selbst Menschen aus dem nächsten Umfeld zu treffen. Außer der engsten Familie und Menschen, die in demselben Haushalt leben, darf man niemanden mehr besuchen. Erlaubt ist es lediglich, sich mit höchstens einer Person zum Spazierengehen oder zu sportlichen Aktivitäten im Freien zu treffen. Das macht nicht nur das bekannte kulturelle Leben unmöglich, sondern schränkt die Menschen auch in ihrem persönlichen Alltag sehr ein. Dennoch kann man nicht sagen, dass das kulturelle Leben komplett zum Stillstand gekommen ist - es hat sich ins Internet verlagert. Musikerinnen und Musiker streamen Live-Konzerte, Clubs lassen DJ ́s auflegen, Autorinnen und Autoren lesen online. Ausstellungen laden zu virtuellen Besuchen ein. Selbst Workshops werden über Internet-Plattformen wie zoom oder ähnliche angeboten. Das gibt den Menschen Halt und gibt ihnen die Möglichkeit, sich zumindest virtuell zu treffen.
Auch auf den Balkonen gab es ähnlich wie in Italien oder Spanien Aktionen - die „Ode an die Freude“, die plötzlich durch die Straßen hallt, hat nicht wenige von uns die ersten Male zu Tränen gerührt. Ein Zusammenhalt über leere Orte hinweg ist sehr tröstlich. Es hat uns einmal mehr bewusst gemacht, wie sehr wir anderen Menschen brauchen und wie stark die Kraft der Kunst ist. Die Kraft der Kommunikation. Kunst als Gespräch, das uns in die Welt eines anderen einlädt - uns an die Hand nimmt und uns aus den Augen eines anderen auf die Welt schauen lässt. In der Interaktion mit der eigenen Erfahrung entspinnt sich ein Dialog, der selbst über physische Distanz Nähe schafft.
2. Can the culture in your country count on any kind of support? If so, from whom, from where, what sources?
Ja, es gibt glücklicherweise Unterstützung. Der Bund und die Länder haben nicht nur Hilfen für große Unternehmen aufgelegt, hier hauptsächlich durch Erleichterung in der Kreditaufnahme, Steuerstundungen und erleichterten Zugang zu Kurzarbeit, sondern auch die kleinen Akteure nicht vergessen. Soloselbständige, Künstlerinnen und Künstler, Menschen, die im Kultur- und Bildungssektor arbeiten, können die Corona-Soforthilfe II beantragen - ein sehr unbürokratischer Prozess, der akute Liquiditätsengpässe überbrücken soll und Existenzen sichert. Allein in Berlin sind schon über 500.000 Anträge gestellt und die Hilfen auch schon ausgeschüttet wurden. Das hilft vielen Menschen, nicht in die Arbeitslosigkeit oder in die Insolvenz zu rutschen.
Es ist ein wichtiges Zeichen vor allem auch für die Kulturszene, in der hauptsächlich Freiberuflerinnen und Freiberufler arbeiten – oft auch in „normalen" Zeiten unter prekären Bedingungen. Sie tragen aber entscheidend zum gesellschaftlichen Leben bei, nutzen das Potenzial unserer Diversität und sehen gesellschaftliche Herausforderungen nicht als unlösbare Probleme sondern als Katalysatoren der Verständigung. Die Coronakrise hat die Bedeutung der Kreativen ins öffentliche Bewusstsein gerückt und ihnen eine starke Stimme verliehen.
Aber natürlich geht es in der Kulturszene nicht immer nur darum, den Herausforderungen unseres Lebens zu begegnen, sondern auch darum, sich gemeinsam freuen und staunen zu können. Kultur ist ein sehr wichtiger Pfeiler unseres Zusammenlebens, das Salz in der Suppe. Schön, dass die Politik dies auch in diesen Zeiten nicht vergisst und die Akteure auch konkret und unbürokratisch unterstützt. Das gibt Mut und Kraft, diese unsicheren Zeiten zu überstehen. Es tut gut mit seiner Existenzangst nicht im Regen stehen gelassen zu werden.
Gleichzeitig spüren wir auch Demut angesichts der großen Privilegiertheit, die uns hier in Deutschland zuteil wird. Wenn wir von Hunderttausenden indischen Tagelöhnern hören, die durch den Lockdown nicht nur ihre Arbeit sondern auch ihre Bleibe verloren haben und sich dann mit Sack und Pack und kleinen Kindern zu Fuß auf den Weg in ihre Dörfer machen, weil es kaum noch anderen Transportmöglichkeiten gibt, fällt es uns sehr schwer, nicht die Fassung zu verlieren. Die Ungerechtigkeiten auf dieser Welt liegen einmal mehr unter dem Brennglas. Wir dürfen sie nicht ignorieren.
Wir fühlen uns zum Teil sehr hilflos. Spenden und ehrenamtliche Unterstützung der sozial Schwachen an Ort und Stelle sind ein Anfang, helfen aber den Schwächsten auf der Welt wenig. Es ist schwer, nicht zu verzweifeln. Ohne den Glauben an den Sinn unserer Arbeit, fiele uns das noch schwerer. Das Wissen darum, dass wir durch unsere Projekte Menschen grenzübergreifend miteinander in Dialog bringen. Ihnen hoffentlich das Geschenk offener Grenzen bewusst machen können und sie die Chancen, die in einem grenzübergreifenden Miteinander liegen, erfahrbar machen können, gibt uns Kraft, angesichts der vielen Ungerechtigkeiten in der Welt nicht innerlich zu kapitulieren.
3. How do you proceed with your projects in this uncertain time? What practices would you recommend?
Der Kulturzug ist ein Projekt, das aus der Reise heraus geboren wurde. Wir wollten die Städte Berlin und Wroclaw sowie die Regionen dazwischen miteinander verbinden, Menschen in Dialog bringen. All unsere kulturellen Veranstaltungen finden an Bord des Zuges statt und strahlen punktuell auch auf die Bahnhöfe der Stationen aus. Das fällt natürlich nun weg. Seit des Bestehens des Kulturzugs halten wir einmal im Jahr Teamtage in Wroclaw ab, in denen wir als Team Resumée über das Gewesene ziehen und Pläne für die nächste Saison schmieden.
Dieses Jahr wurden uns moderne Triebwagen zur Verfügung gestellt, was neue Möglichkeiten aber auch neue Herausforderungen mit sich bringt. Viele Programme müssen neu angepasst werden, neues Material und alte Formate auf den neuen Raum zugeschnitten werden. Wir wollten die Teamtage nicht komplett ausfallen lassen und so sind wir auf ein Online-Meeting ausgewichen. Obwohl natürlich der persönliche Kontakt fehlte, war die Wiedersehensfreude groß. Es uns auch gelungen, einige Methoden, z.B. ein Kommunikationstraining durchzuführen - dazu haben sich die Teilnehmenden in Paaren am Telefon „getroffen" und haben das Experiment auf diese Art und Weise durchgeführt. Die Reflexion fand dann wieder im Plenum online statt. Das hat gut funktioniert. Auch einige neue Elemente, wie z.B. die Kulturzug-Story-Telling-Würfel haben wir zunächst jede und jeder individuell entwickelt und die Ergebnisse dann im Plenum diskutiert. Ein sehr großes Thema war der Wunsch, eine „virtuelle" Zugfahrt zu entwickeln, bis der Zug wieder fährt und die Grenzen nach Polen geöffnet sind. Sowohl das Team als auch die Künstlerinnen und Künstler könnten den Zug mit ihren Formate bespielen und mit virtuell teilnehmenden Publikum teilen - toll wäre es, die Menschen dann tatsächlich auch an einer Veranstaltung in Wroclaw oder einer der Stationen dazwischen teilnehmen zu lassen, sie also tatsächlich auch an ihrem Ziel ankommen, Liegnitzer oder Breslauer treffen zu lassen.
4. How do you see the future of culture after the danger is gone?
Wir hoffen, dass die Kulturszene diese auch wirtschaftlich unsicheren Zeiten überstehen wird. Vor allem betrifft es natürlich Orte, die nun Einnahmeausfälle haben und trotzdem ihre Miete, Steuern und auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zahlen müssen.
Insbesondere die Berliner Clubszene hat stark zu kämpfen. Auch die einzelnen Künstlerinnen und Künstler sehen sich von Existenzangst bedroht. Wir denken aber nicht, dass dies ihre beruflichen Pläne für die Zukunft dauerhaft dämpfen wird. Wir glauben, dass wir uns alle sehr bewusst werden, wie wichtig Kunst und Kultur für unser Leben sind. Nach dem Lockdown werden die Menschen ihren Durst nach Kultur stillen wollen, es wird zu einem Run auf Kultur kommen. Die Menschen lechzen danach, gemeinsam auszugehen, ein Konzert live zu erleben, tanzen zu gehen, vor den Gemälden und Skulpturen einer Ausstellung zu stehen und sie nicht nur auf dem Bildschirm zu bewundern. Sie freuen sich darauf, das alles auch wieder „live und in Farbe" erleben zu können, vor allem sich auch wieder mit Freunden direkt und in persönlichem Kontakt darüber austauschen zu können. Wir bleiben optimistisch und sage einen Boom für die Kultur voraus.
Aber wir sind auch der Meinung, dass die Kultur ihren Anteil an den Ursachen der Katastrophe überdenken müssen wird. Das betrifft sicher den ökologischen Fußabdruck von Reiseaktivitäten und Ressourcenverbrauch. Um in ihren Projekten aber frei und kühn zu bleiben, werden kleinere Formate Bedeutung gewinnen, gerade auch in den darstellenden Künsten, die sicher auch stärker in den visuellen Bereich verlegt werden. Die Verschränkung der Künste mit dem Tourismus, wie beim Kulturzug ist sehr risikoreich und wird in naher Zukunft schwieriger sein. Viel hängt davon ab, ob und wie das Publikum zukünftig sozial interagieren wird.
5. How do you see future of the world, what will be the crucial changes?
Auch hier sind wir optimistisch. Wir denken, dass diese Zeit der Isolation, des Home Office und Online-Lebens uns die Kraft des persönlichen Kontakts sehr deutlich vor Augen führt. Die Wichtigkeit der anderen Menschen für unser Leben. Auch vor der Krise stellten social media einen wichtigen Aspekt im Alltag vieler Menschen dar - jetzt, da wir zu großen Teilen darauf reduziert sind, merken wir, dass dies ein Treffen, ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht nicht ersetzen kann. Dazu sind wir jetzt mehr denn je auf uns zurückgeworfen. Home Office ermöglicht keinen Plausch in der Pause, kein sich Anlächeln im Büro oder ein paar gemeinsame Minuten am Kaffeeautomaten. Die Essenz der eigenen beruflichen Tätigkeit springt einen ungeschminkt an. Macht das, was ich tue, wirklich Sinn außer, dass es meine Miete zahlt? Erfüllt es mich? Ist es das, was ich ein Leben lang tun möchte? In einer Welt, die sich im Wandel befindet, stellt sich die Frage, welchen Platz, welche Rolle wir in ihr, in diesem Wandel spielen wollen und können. Wir glauben, dass sich viele dieser
Sinnfrage nicht mehr entziehen können. Natürlich spielen da auch Existenzängste mit hinein, aber auch hier erleben wir etwas, das uns aufzufangen vermag. Solidarität. Menschen schließen sich zusammen, setzen sich nicht nur für sich persönlich ein, sondern für ihre Kolleginnen und Kollegen. Für ihre Projekte. Für andere Berufsgruppen, die sonst eher im Nebel des Alltags unsichtbar werden. Und das grenzübergreifend. Wir existieren nicht isoliert. Wir brauchen unsere Nachbarn - und damit meinen wir nicht nur die direkten. Wir brauchen sie nicht nur, wir sind ohne sie nicht, was wir sind. Das gilt nicht nur für unsere europäischen Partnerländer. Das gilt global. Hat es schon immer, aber wir haben das Gefühl, dass wir uns der globalen Leinwand, an der wir alle mitzeichnen sehr viel bewusster werden. Wir glauben fest daran, dass unsere Verantwortung füreinander stärker in den Fokus rückt. Die Verantwortung füreinander aber auch das Glück, das in diesem Miteinander verborgen liegt. Wir sind nicht allein. Das ist ein Geschenk, das es zu schützen, zu hegen und zu pflegen gilt.
Der Rausch an Kreativität und Aktivität in den neuen Medien während der Coronakrise zeigt neben den Problemen der Globalisierung auch die Grenzen der Digitalisierung auf. Der Mensch bleibt ein soziales Wesen und ein Herdentier, das sich nach Vorbildern sehnt und keinesfalls auf Mitbestimmung und Teilhabe verzichten wird. Deswegen können wir und vorstellen, dass Europa stärker als bisher Diskussionen im Netz kontrollieren wird, Fake News, Verleumdung und Nötigung ahnden und nur „faire" Werkzeuge der digitalen Teilhabe zulassen wird. Es braucht unsere Erachtens ein soziales Medium im Internet, das klug und sachlich moderiert ist, ein „öffentlich-rechtliches“ Facebook.
6. What do you wish for the world?
Wir wünschen der Welt, dass sie diese Zeit der Transformation dazu nutzt, dem Ganzen eine positive Wende zu geben. Nicht Angst sollte regieren, sondern Umsicht. Die Sorge um andere und unseren Planeten. Das Coronavirus ist seit langem eine sehr schnell fühlbare Bedrohung, die vor keinen Grenzen Halt macht. Sie hat etwas sehr Inklusives, sie betrifft uns alle. Der Klimawandel ist ein Prozess, der vor diesem Hintergrund nicht in Vergessenheit geraten darf. Wir werden uns nach dieser Krise umstellen müssen. Individuell und kollektiv werden sich Existenzen wirtschaftlich neu aufstellen müssen. Wir wünschen uns, dass dieser Reset ökologischen und sozialen Werten folgt. Dass diese akute Krise die Klimakrise in den Vorder- und nicht in den Hintergrund rücken wird. Wir müssen etwas verändern? Tun wir es auf eine Weise, die uns allen, der Natur, unserer Erde zugute kommt. Wir hoffen, dass die Welt die Erfahrung der Ruhe und Sinnhaftigkeit während des Lockdowns als Vorbild nimmt für eine Zukunft ohne den Virus, dass die Wertschätzung für Begegnungen außerhalb der eigenen vier Wände steigt.
Wir sind der Meinung, dass Kunst und Kultur hier eine wichtige Rolle spielen. Immer schon gespielt haben und noch stärker spielen werden. Wir sind Resonanzboden und Humus in einem. Hier werden Gärungsprozesse der Gesellschaft sehr deutlich und hier können sie Schwung aufnehmen. Die Menschen mitnehmen auf eine Reise, die niemanden ausschließt und uns die Schönheit unserer so komplexen und miteinander zusammenhängenden Welt bewusst macht. Wir sind nicht allein.
P.S.
Die Welt da draussen hält an. Und es passiert so viel...
Wir sortieren uns neu, bewegen uns einzeln oder in Paaren und achten dabei auf die 1,5 Abstand zueinander – wie in einer gut durchstrukturierten Choreographie.
Der Rhythmus und das Tempo der Straße ist langsamer geworden. Wir haben Zeit – haben wir sie?
Eines Tages legten wir uns schlafen und erwachten in einer anderen Welt.
Zasneliśmy w jednym świecie i obudziliśmy się w innym.
One day we went to sleep and woke up in another world.
Ewa Stróżczyśka-Wille - Natalie Wasserman - Oliver Spatz
Projektteam Kulturzug Berlin-Wrocław