Deutschlands EU-Ratspräsidentschaft – Inhalte und Erwartungen
Am 1. Juli übernahm Deutschland die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union zu einem besonderen Zeitpunkt – zwar ist der erste Höhepunkt der Coronavirus-Pandemie in den meisten EU-Ländern vorerst überschritten, der Kampf gegen das Virus ist aber noch längst nicht vorbei. Diese Tatsache wird Deutschlands Amtszeit beeinflussen, zumal aufgrund der Pandemie mit einer EU-weiten Rezession zu rechnen ist.
Die EU-Ratspräsidentschaft umfasst im wesentlichen drei Aufgaben: Sie leitet und bereiter die Treffen des europäischen Rates vor, vertritt diesen anderen EU-Institutionen (z.B. der europäischen Kommission) gegenüber und repräsentiert die EU auf internationaler Ebene. Dabei unterliegt die Ratspräsidentschaft dem Rotationsprinzip: Alle sechs Monate übernimmt ein anderes Land den Vorsitz, die Reihenfolge wird von den Ratsmitgliedern gemeinsam festgelegt.
Deutschland hatte zuletzt im Jahr 2007 die EU-Ratspräsidentschaft inne, Polen im Jahr 2011. Im Fokus der diesjährigen deutschen EU-Ratspräsidentschaft stehen unter anderem zwei Themenfelder. Zum einen müssen wirtschaftliche Fragen geklärt werden - unter anderem stehen Verhandlungen des mehrjährigen EU-Finanzrahmens (2021 bis 2027) und die Ausarbeitung eines Kompromisses zwischen den nordeuropäischen und den südeuropäischen Staaten über das Finanzierungsmodell des europäischen Hilfspaketes auf der Agenda der nächsten Monate. Die finanziellen Mittel in Form von Zuschüssen sollen auch die Gesundheitssysteme der Mitgliedsstaaten stärken. Gleichzeitig sollen die Gelder in andere Bereiche fließen, die für die langfristige Zukunft der Europäischen Union wichtig sind, wie beispielsweise die Klimapolitik. Im Rahmen der Implementierung des europäischen Grünen Deals wird Deutschland versuchen, Wasserstoff als alternative Energiequelle zu bewerben. Zum anderen ist die Digitalisierungspolitik ein Schwerpunkt. Die Entwicklung in diesem Bereich sollte die Abhängigkeit der EU von IT-Importen aus China und den USA verringern. Insgesamt beinhaltet Deutschlands Vision, dass die EU schrittweise unabhängiger von externen Partnern wird. So hat gerade die Corona-Krise gezeigt, dass regionale Produktion, Forschung und Entwicklung eine wichtige Rolle spielen können.
Die polnische Regierung wünscht sich, dass kleine und mittlere Staaten, insbesondere aus Ostmitteleuropa, stärker in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Denn aus ihrer Sicht wird der Integrationsprozess der EU stark von den größeren Staaten beeinflusst. So stellen die Einwohner*innen Deutschlands und Frankreichs nach dem Brexit etwa ein Drittel der gesamten EU-Bevölkerung und haben dadurch großen Einfluss auf die europäische Gesetzgebung zu beeinflussen. Dieser liegt nämlich der Grundsatz der doppelten Mehrheit zugrunde, das heißt, dass jede Entscheidung mit zwei Mehrheiten beschlossen werden muss. Zum einen müssen 55 Prozent der Mitgliedsstaaten zustimmen, zum anderen müssen die zustimmenden Staaten gemeinsam mindestens 65 Prozent EU-Bürger*innen repräsentieren. Laut Polen sei es notwendig, die deutsch-französische Dominanz auszugleichen. Die wirtschaftlichen Beziehungen verdeutlichen die Wichtigkeit der Region - etwas über elf Prozent des deutschen Exportes gehen in die Länder der Visegrád-Gruppe (Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn) und nur acht Prozent nach Frankreich.
In puncto Corona-Krise hat Polen die deutsch-französische Initiative eines europäischen Wiederaufbaufonds positiv aufgenommen, unterstreicht aber gleichzeitig, dass dieser keine Kürzungen in anderen Politikbereichen des mehrjährigen Finanzrahmens bedeuten sollte. Polen zählt darauf, dass die von Deutschland vertretenen Ziele im Bereich des EU-Haushalts, der Klima- und der Digitalisierungspolitik und die Werkzeuge für deren Umsetzung realistisch sein werden und die spezifische Situation der Mitgliedsstaaten berücksichtigen werden.
Die kommenden Monate werden für die Zukunft der Europäischen Union ausschlaggebend sein. Die EU-Ratspräsidentschaft ist ein Test für Deutschland, aber auch eine Gelegenheit, seine Führungsposition innerhalb der EU zu stärken. Die Mehrheit der polnischen Politik erwartet, dass Deutschland während seiner EU-Ratspräsidentschaft die Haltung behält, die seine europäische Strategie in den vergangenen Jahren geprägt hat: Offenheit gegenüber neuen Integrationsinitiativen, verbunden mit Vorsicht und Fürsorge für die Einheit der Gemeinschaft.
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