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Interview mit Dieter Nietan, Polenbeauftragter der Bundesregierung

Porträt von Herrn Dieter Nietan © photothek

"Grenzregionen sind Zukunftslabore und Herz der europäischen Zusammenarbeit" 

1/2023 Newsletters der Oder-Partnerschaft

Dietmar Nietan ist seit März 2022 Polen-Beauftragter der deutschen Bundesregierung (offizieller Titel: „Koordinator für die deutsch-polnische zwischengesellschaftliche und grenznahe Zusammenarbeit“). Anders als sein brandenburgischer Vorgänger Dietmar Woidke wuchs Nietan als gebürtiger Dürener nicht gerade in geographischer Nähe zum östlichen Nachbar Deutschlands auf. Dennoch liegen die deutsch-polnischen Beziehungen dem 58-jährigen schon lange am Herzen. Schon seit November 2010 ist Nietan, der für die SPD im Deutschen Bundestag sitzt, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands der Deutsch-Polnischen Gesellschaft. Doch seine Leidenschaft für das Deutsch-Polnische hat auch einen familiären Hintergrund, wie Nietan uns im Interview verrät.  

Lieber Herr Nietan, auch schon lange bevor Sie im letzten Jahr zum Polenbeauftragten der Bundesregierung ernannt wurden, waren die deutsch-polnischen Beziehungen eine Herzensangelegenheit für Sie. Woher rührt Ihre Leidenschaft für diese Partnerschaft?  

Die deutsch-polnische Freundschaft ist etwas ganz Besonderes. Wenn man sich die dunkelsten Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte und die grausamen deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs in Polen vor Augen führt, grenzen die vielschichtigen Verbindungen und die unzähligen in den letzten Jahrzehnten geknüpften Freundschaften nahezu an ein Wunder, für das ich sehr dankbar bin. Unsere Gesellschaften sind heute aufs Engste miteinander verwoben – politisch, gesellschaftlich, kulturell und wirtschaftlich – und das haben wir sehr stark engagierten Persönlichkeiten, ob in der großen Politik oder lokal vor Ort in städtischen Freundschaftsvereinen zu verdanken. Sie alle eint das Herzblut für das Deutsch-Polnische, die Bereitschaft voneinander zu lernen und die Überzeugung, gemeinsam geht es uns besser. Dazu zähle ich mich auch. Polen und Deutschland zeigten auch gerade angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wieder, dass sie zusammenhalten. So sind auf vielerlei Ebenen deutsch-polnische Initiativen zur konkreten Unterstützung Geflüchteter entstanden. Beispielsweise haben deutsche Partnerstädte freiwillige Helfer*innen in Ihre polnischen Partnerkommunen entsandt oder Spendenkonten eingerichtet. In schwierigen Zeiten ist es wichtig, Freunde zu haben, mit denen man Seite an Seite steht. 

Als ich 1998 in den Bundestag kam, sagte mir damals mein Großvater, der aus Allenstein stammte: „Junge, vergiss niemals, dass deine Großeltern ihre Heimat in Ostpreußen nicht wegen der Polen oder der Roten Armee verloren haben, sondern wegen der deutschen Faschisten, die ihre Nachbarn brutal überfallen haben. Deshalb musst du dich als Abgeordneter immer für die Versöhnung zwischen Deutschland und Polen einsetzen.“ Genau das tue ich bis heute und es macht mir große Freude, weil Polen ein wunderbares Land mit wunderbaren Menschen ist. 

Anlässlich der Veranstaltung „40 Jahre Polnischer Sozialrat e.V.“ im Dezember letzten Jahres haben Sie appelliert, die Nachbarn im östlichen Europa nicht mehr länger als „arme Brüder“ zu betrachten, sondern als Partner, die ungeahnte Schätze auch für die deutsche Gesellschaft tragen. Welche Ansatzpunkte sehen Sie, um diese veränderte Sichtweise auch in konkreten Maßnahmen umzusetzen?  

Hier lautet meine Antwort ganz klar: Austausch und Begegnung und zwar auf allen Ebenen. Davon kann es nie genug geben. Ich versuche so oft wie möglich nach Polen zu reisen und pflege einen engmaschigen Austausch mit meinen polnischen Kolleg*innen und Freund*innen. 

Und natürlich haben wir zahlreiche bilaterale Institutionen, die die Regierungen unserer beiden Länder fördern und die die Menschen beider Länder einander näherbringen. Das Deutsch-Polnische Jugendwerk beispielsweise hat seit 1991 über 3 Millionen junge Menschen aus Polen und Deutschland durch Austauschprogramme zusammengebracht. Dass die junge Generation ihre Nachbarn kennen, verstehen und schätzen lernt halte ich für grundlegend für gute Nachbarschaft. Deswegen freut es mich, dass das Jugendwerk kürzlich den Internationalen Jugendpreis des Westfälischen Friedens erhalten hat, gerade angesichts der trilateralen Austauschprogramme, die Jugendliche aus der Ukraine mit einbeziehen. Genau solche Initiativen gilt es zu stärken.  

Ich möchte an alle Menschen hier appellieren: Besuchen Sie Ihre Nachbarn, es lohnt sich! Beim Deutsch-Polnischen Bahngipfel im Februar in Potsdam haben wir uns dafür eingesetzt, dass dies künftig noch besser auf der Schiene möglich ist. Das Zugnetz in Polen ist übrigens gut ausgebaut, und die Besuchsmöglichkeiten endlos. Sei es die perfekte Renaissancestadt Zamość im Südosten, Hochgebirge im Süden, zauberhafte Strände im Norden, eine Vielzahl an großen, alten Städten und Nationalparks - die kulturelle Vielfalt Polens ist wirklich beeindruckend. 

Aktuell könnte das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen als angespannt bezeichnet werden, aufgrund etwa von Unstimmigkeiten in Bezug auf Reaktionen der EU-Gemeinschaft auf den Angriffskrieg Russlands und auf die Energiekrise. Wie erleben Sie diese Spannungen und welche Lösungspotenziale sehen Sie, um die Konflikte zu überwinden und das Vertrauensverhältnis der beiden Länder wieder zu stärken? 

Deutschland und Polen verbindet eine vertrauensvolle und starke Partnerschaft in EU und NATO. Als Nachbarn in Europa stehen wir derzeit vor gewaltigen Herausforderungen. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde uns die sicherheitspolitische Bedeutung unserer Energieversorgung deutlich und unmittelbar vor Augen geführt. Zudem stellt uns der Klimawandel vor große Aufgaben mit Blick auf die notwendige grüne Transformation unserer Energiemärkte. 

Gerade daher brauchen wir in Deutschland und braucht Europa die deutsch-polnische Partnerschaft mehr denn je. In herausfordernden Zeiten wird manchmal um die richtige Lösung gerungen, aber der rege Besuchsverkehr und die intensive deutsch-polnische Abstimmung auf höchster politischer Ebene zeigen: Gerungen wird gemeinsam, um am Ende Lösungen zu finden. Am 4. April durfte ich am 1. Deutsch-Polnischen Energiewendeforum teilnehmen, eine politisch hochrangig besetzte Veranstaltung der deutschen und polnischen Energieagenturen dena und KAPE. Genau das ist der richtige Ansatz: Bei einem im deutsch-polnischen Verhältnis nicht immer einfachen Thema – Energie – das Gespräch suchen und mutige Schritte zusammengehen. Verbunden mit Austausch zu gegenseitigen Erfahrungen und Herausforderrungen bieten z.B. Kohleausstieg oder Ausbau Erneuerbarer mit Themen wie Offshore-Wind, H2 und „E-Mobilität“ eine gute Basis zu vertiefter Kooperation. So einen Schritt sind beispielsweise die Doppelstädte Görlitz und Zgorzelec gegangen, die auf gemeinsame klimaneutrale Fernwärmeverbindungen setzen wollen.  

Auch das Thema Reparationszahlungen für Weltkriegsschäden ist aktuell viel diskutiert und ein wunder Punkt in der deutsch-polnischen Partnerschaft. Für viele Deutsche kommt die Forderung recht plötzlich. Als Vermittler zwischen den beiden Ländern – wie erklären Sie den Menschen, die verwundert oder gar verärgert sind, Polens Sichtweise? 

Das Leiden der polnischen Zivilbevölkerung war lange nur ein Splitter in der deutschen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, was in keinem Verhältnis zum Ausmaß deutscher Verbrechen auf polnischen Boden steht. Die Zerstörung ganzer Städte, Umsiedlungen und Massenerschießungen sollten Polen für immer von der Landkarte tilgen. Die Bundesregierung teilt die polnische Auffassung, dass die Zeit nicht von Verantwortung für die grausamen deutschen Verbrechen entbindet. Die Erinnerung und die Aufarbeitung werden für uns niemals abgeschlossen sein. Das Wissen über die deutschen Verbrechen und deren tatsächliches Ausmaß zu stärken, hat für die Bundesregierung unverändert eine hohe Priorität. Ausdruck dessen ist zum Beispiel die Umsetzung des Bundestagsbeschlusses vom 30. Oktober 2020, in Berlin einen Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen zu schaffen - ein Projekt, das mir persönlich am Herzen liegt. Vor diesem Hintergrund brauchen wir mehr Sensibilität und Wissen bezüglich der dunkelsten Kapitel unserer Vergangenheit, auch durch gemeinsame Erinnerungsprojekte. Dies alles ist aber nicht abhängig von Reparationszahlungen. Allerdings ist es meine feste Überzeugung, dass Deutschland überlegen muss, wo und in welchem Umfang wir bereit wären durch das finanzielle Engagement in konkreten Projekten auch weiterhin Wiedergutmachung zu leisten. Hier geht es nicht um juristische, sondern politisch moralische Fragen. 

Welches Potenzial sehen Sie in gemeinschaftlichen Initiativen wie der Oder-Partnerschaft in Zeiten wie diesen? 

Gemeinschaftliche Initiativen zwischen den deutschen und polnischen Grenzregionen sind für den europäischen Zusammenhalt von entscheidender Bedeutung. Grenzregionen sind die Nahtstellen Europas: Je enger die Verflechtungen, desto stärker ist die Europäische Union. 

Es ist gut, einen strukturierten Dialog im Rahmen von Initiativen wie der Oder-Partnerschaft zu pflegen und so auch die vielfältigen Themen zu identifizieren, die die Menschen in der gemeinsamen Grenzregion beschäftigen. Genau das ist es, was wir brauchen, um einander besser zu verstehen und um Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam zu entwickeln. 

Diese vielfältigen und zahlreichen Kooperationsformate auf allerlei Ebenen, ob national, regional, kommunal, zeichnen die deutsch-polnische Partnerschaft aus. Formate wie die Deutsch-Polnische Regierungskommission für grenzüberschreitende und interregionale Zusammenarbeit mit nationaler Beteiligung sorgen dafür, dass man im Dialog bleibt – komme was da wolle – und sie bündeln viele der Themen, die die Menschen beider Länder bewegen, ob Anliegen Zehntausender Grenzpendler*innen oder grenzüberschreitender Katastrophenschutz. Sie machen die deutsch-polnische Partnerschaft aus.  

Die Oder-Region im Speziellen steht vor ihren eigenen Herausforderungen, insbesondere ökologisch: Nach dem Fischsterben des letzten Sommers sehen Expert*innen den Zustand der Oder weiterhin kritisch. Insbesondere der von deutschen Umweltorganisationen eingeklagte Ausbaustopp der Oder birgt Konfliktpotenzial. Wie bewerten Sie die Lage? Inwiefern kann die Oder-Partnerschaft im Rahmen dieser Krise vielleicht eine Schlüsselrolle einnehmen? 

Die Bilder von massenhaft toten Fischen in der Oder waren bedrückend und alarmierend für Deutschland, Polen und die Menschen in unserem gemeinsamen Grenzraum. Sie sind uns sicherlich noch alle im Gedächtnis. Die Umweltkatastrophe hat uns nochmal deutlich gezeigt, wie wichtig eine vertrauensvolle grenzüberschreitende Zusammenarbeit gerade auch in Krisensituationen ist. Mir als Koordinator ist die Stärkung des grenzüberschreitenden Miteinanders und der Schutz des gemeinsamen Lebensraumes ein sehr wichtiges Anliegen. Initiativen wie der Oder-Partnerschaft kommt hier eine Schlüsselrolle zu, denn gute Kommunikation bedarf einer gewissen Vertrautheit und eingespielten Mechanismen, die in solchen grenzüberschreitenden Formaten gestärkt werden.  

Auch über die aktuelle ökologische Krise hinaus: Wie sehen Sie den Status Quo der deutsch-polnischen Partnerschaft bei der gemeinsamen Entwicklung von nachhaltigen und innovativen Lösungen für Herausforderungen wie Klimawandel, Infrastrukturausbau und Digitalisierung? Wie tragen Initiativen wie die Oder-Partnerschaft dazu bei, um entsprechende Projekte voranzutreiben? 

Hier liegt sehr viel Potenzial in der deutsch-polnischen Zusammenarbeit, von dem nicht nur beide Länder, sondern auch Europa profitieren kann. Gerade kürzlich, am 4. April stellten beide Länder dies beim 1. Deutsch-Polnischen Energiewendeforum in Warschau unter Beweis und zeichneten eine Mut machende Vision für eine nachhaltige grenzüberschreitende Energieregion.  

Grenzen dürfen heute kein Hindernis mehr für die lokale Zusammenarbeit sein. Vielmehr sind die Grenzregionen Zukunftslabore und Herz der europäischen Zusammenarbeit. Hier zeigt sich der europäische Zusammenhalt ganz konkret. Denn dort, wo so viele unterschiedliche Akteure und Ebenen gemeinsam agieren, entsteht eine Perspektivenvielfalt, die Nährboden für gute Ideen und mutige Schritte bietet. 

Initiativen wie die Oder-Partnerschaft tragen dazu bei, grenzüberschreitende innovative Initiativen sichtbar zu machen, sie zu bündeln und Akteure zu vernetzen. Letztens hat diese zum Beispiel eine Karte der UNESCO-Welterbestätten in der Grenzregion veröffentlicht. Perfekt, um den grenzüberschreitenden Tourismus weiterzuentwickeln.   

Welche weiteren Themen spielen für diesen speziellen Verflechtungsraum auf beiden Seiten der Oder eine Rolle und was ist Ihre Aufgabe als Polenbeauftragter der Bundesregierung bei diesen Themen? 

Im deutsch-polnischen Grenzraum spielen viele Themen eine große Rolle. Zunächst möchte ich aber betonen, dass mir die Augenhöhe bei der Zusammenarbeit zwischen den Grenzregionen – auch wenn sie unterschiedliche Ansichten vertreten – extrem wichtig ist. Dann sind es viele Themen, bei denen wir gemeinsam vorankommen sollten: Vereinfachung der Regelung für den grenzüberschreitenden Rettungsdienst, Anerkennung der Berufsabschlüsse, Erlernen der Nachbarsprache, Elektrifizierung der Bahnstrecke Dresden – Görlitz und vieles mehr. Dabei sehe ich meine Rolle als Transmissionsriemen zu den Hauptstädten. 

Und wenn ich nur ein Thema hervorheben sollte, würde ich den grenzüberschreitenden Jugendaustausch nennen. Denn durch diesen können wir den Teil „Grenz“ im Wort „Grenzregion“ verschwinden lassen und so aus unserer natürlichen Grenze – die Oder – etwas Verbindendes machen. Ganz nach dem Motto der Oder-Partnerschaft: „Grenze trennen – die Oder verbindet“. Denn Jugendaustausch ist ein wirksames Instrument für ein besseres gegenseitiges Verständnis. Er bindet dauerhaft die Menschen jenseits der Grenze. Er fördert Partizipation, Demokratie und macht Europa verständlicher und erlebbarer – und dies nachhaltig. Alles, was wir für den Zusammenhalt in der EU brauchen. 

Allen Krisen, Konflikten und Herausforderungen zum Trotz: Welche Erlebnisse der letzten Monate haben Ihnen besonders Mut gemacht im Hinblick auf die deutsch-polnische Freundschaft? 

Ich habe seit meinem Amtsantritt im März 2022 unzählige deutsch-polnische Initiativen und Menschen kennengelernt, die tagtäglich mit großer Leidenschaft an einer Vertiefung der Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern arbeiten. Ich bin beeindruckt von der Breite und Dichte des deutsch-polnischen Beziehungsgeflechts und es macht mir Mut zu sehen, wie viele Menschen sich um die deutsch-polnische Freundschaft kümmern. 

Die Zukunft eines freien und demokratischen Europas entscheidet sich in Mittel- und Osteuropa! Dort gibt es so viele engagierte Menschen, die auf unsere Zusammenarbeit setzen. Deutschland hat hier eine besondere Verpflichtung. Der Freiheitswille der Menschen insbesondere in der Ukraine, aber nicht nur dort, macht mir Hoffnung. Die Solidarität der Menschen in Polen mit der Ukraine macht mit Mut. Ich möchte, dass Deutschland und Polen ganz in diesem Sinne wieder mehr gemeinsam unterwegs sind. 

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